Landwirte reden Klartext

Auf dem Karlshof bei Darmstadt arbeiten Junglandwirt Lennart Reimann und seine Kollegen fast täglich vor Publikum. Der Milchviehbetrieb setzt konsequent auf Öffentlichkeitsarbeit. So räumt Betriebsleiter Michael Dörr mit falschen Vorstellungen von der Landwirtschaft auf und gewinnt viel Akzeptanz für seinen Hof und seinen Beruf.

Was bleibt übrig? Milcherzeuger arbeiten hart für wenig Geld

 

Stichtag 28. März 2018. Bei einem großen deutschen Lebensmittel-Discounter zahlen die Kunden für einen Liter Vollmilch 78 Cent. Die haltbare Variante mit 1,5 Prozent Fett kostet noch einmal zehn Cent weniger. Jeden Tag packen Verbraucher überall im Land Milchkartons achtlos in ihre Einkaufswagen, zahlen und verschwinden. Ihr Bedarf ist gedeckt – bis zum nächsten Mal. Dann wird im Laden wieder günstige Milch für sie bereitstehen. Woher sie stammt? Welche Arbeit dahinter steckt? Was für die Erzeuger übrig bleibt? Das ist nebensächlich – wenn überhaupt. Und deshalb: Im Frühjahr 2018 erhielten hessische Milchbauern von ihren Molkereien zwischen 30 und 34,5 Cent pro Liter Rohmilch. Das ist nicht einmal die Hälfte des Verkaufspreises. Nahe Darmstadt bewirtschaftet Michael Dörr in dritter Generation den Karlshof. Die Auszahlungspreise der Molkereien kennt er genau – ebenso den Aufwand, den er für frische Milch betreiben muss. Auf seinem Hof werden 320 Kühe gemolken, jeden Tag zweimal. „Wir geben pro Jahr rund drei Millionen Liter Milch ab“, erklärt der Betriebsleiter. Dafür muss er 365 Tage arbeiten – unterstützt von zwei angestellten Landwirten, zwei Auszubildenden und mehreren Aushilfen. Zum Karlshof-Team gehört Lennart Reimann. Auf dem Milchviehhof von Michael Dörr wurde er ausgebildet. Jetzt ist der junge Landwirt für die Betreuung der Herde samt Nachzucht verantwortlich. „Kaum jemand weiß, was alles hinter der Milchproduktion steckt“, sagt er. „Man stellt nicht einfach Kühe in den Stall, legt ihnen Futter vor und melkt sie.“

Auf dem hessischen Milchviehbetrieb ist ein Mitarbeiter täglich allein drei bis vier Stunden damit beschäftigt, die Tiere zu füttern. Zu fressen gibt es unter anderem Mais-, Getreide und Gras-Silage. Und die stellt sich nicht von allein her. „Wir machen im Sommer allein fünf bis sechs Grasschnitte“, erklärt Lennart Reimann. Mit anderen Worten: 80 Hektar Grünland müssen mehrfach gemäht werden. Voraussetzung für gute Erträge ist das regelmäßige Düngen der Flächen. „Wir wollen perfektes Futter für unsere Kühe“, so der Junglandwirt. Deshalb muss das Pflanzenmaterial, gehäckselt, verdichtet und luftdicht verschlossen werden. „Sonst siliert es nicht gut.“ Das ideale Futter kostet nicht nur Arbeitskraft, sondern auch Geld – denn ergänzend werden Mineralfutter sowie Milchaustauscher für die Kälber zugekauft. Apropos Kälber – Kühe müssen regelmäßig kalben, um Milch zu geben. Auf dem Karlshof werden die Rinder von einem Bullen gedeckt und die Milchkühe künstlich besamt. „Wir sind Geburtshelfer, Tierpfleger, Ernährer, Melker und noch vieles mehr“, erklärt Lennart Reimann. Nicht zu vergessen die stetig steigenden Dokumentationspflichten, die immer mehr Zeit kosten. Der junge Landwirt sagt: „Wir betreiben einen enormen Aufwand, um einen Liter Rohmilch aus der Kuh zu bekommen.“ Zur Erinnerung: Dafür gab es im Frühjahr 2018 nicht mehr als 34,5 Cent. Michael Dörr betont, dass er mindestens 35 Cent bräuchte, um vernünftige Löhne zahlen und weiter in seinen Betrieb und das Tierwohl investieren zu können.

„Keine Stallplatz-Garantie für alle“ Auch artgerechte Milchviehhaltung ist ein stetiges Kommen und Gehen

 

Das Bullenkalb ist erst wenige Stunden alt. Jetzt liegt es auf Stroh in einer Box unter der Wärmelampe. Lennart Reimann mag Kälber. Auf dem Karlshof kümmert er sich unter anderem um die Nachzucht. Er tränkt und füttert sie und betreut die weiblichen Jungtiere, bis sie schließlich als Milchkühe im Stall des Betriebs stehen. Der junge Landwirt erfreut sich daran, die Kälber aufwachsen zu sehen. Der neugeborene Bulle hat einen anderen Weg vor sich. Schon in ein paar Wochen wird er verkauft und den Hof verlassen. „Für ihn bekommen wir gerade keinen guten Preis“, sagt Lennart Reimann. Dann hält er kurz inne und betrachtet das Kalb: „Schon komisch, es ist gerade erst auf der Welt und schon überlegt jemand, was es wert ist.“ Aber so ist das in der Milchviehhaltung. Ständig gibt es Nachwuchs und ständig werden die männlichen Kälber abgegeben – in der Regel an Mastbetriebe. „Und auch nicht jedes Kuhkalb kommt automatisch in unsere Herde“, erklärt der Junglandwirt. Der Stall des Karlshofs bietet Platz für 320 Milchkühe. Vollbelegung gibt’s nicht, alle Tiere sollen genug Platz haben. Die Nachzucht rückt nach, wenn Kühe aus der Herde genommen werden – weil sie nicht mehr tragend werden, alt sind, oder schlicht nicht mehr genug Milch geben.

Auf Milchviehhöfen herrscht ein stetiges Kommen und Gehen. Die Betriebe müssen Geld verdienen und bei den Margen betriebswirtschaftlich denken. Auch deshalb setzt der Karlshof auf einen Tierbestand in einem ausgewogenen Verhältnis aus alten und jungen Kühen. Grundsätzlich gilt: Je älter die Kuh, desto wirtschaftlicher ist sie. Lennart Reimann rechnet vor: Bis ein Tier das erste Mal gemolken werden kann, kostet die Aufzucht rund 1800 Euro. „Die müssen erst mal wieder reinkommen.“ Doch alte Milchkühe stehen nicht nur als wirtschaftlichen Überlegungen im Stall von Betriebsleiter Michael Dörr. „Sie sorgen auch für Ruhe in der Herde“, berichtet der angestellte Landwirt Lennart Reimann. „Wir beobachten immer wieder, dass ein erfahrenes Tier auch mal eine Färse mitzieht.“ Er muss gleichzeitig darauf achten, dass jüngere Tiere durch die Rangordnung in der Herde nicht benachteiligt werden. Alte Kühe würden ihnen beispielsweise kaum Platz am Futtertisch machen. „Deshalb haben wir eine eigene Gruppe, in der die Jungen ganz entspannt leben können.“ Der Landwirt nennt den Karlshof einen Tierwohl-Betrieb. „Wir verdienen mit den Kühen unser Geld, deshalb geben wir ihnen auch viel.“

Die Milchkühe leben gruppenweise in einem hellen, offenen Stall, in dem sie sich frei bewegen können. Dort haben sie jederzeit Zugang zu Futter, Wasser und zu den extrabreiten, weichen Liegeboxen. Pro Gruppe bleiben in der Regel immer fünf bis zehn Plätze unbesetzt. So müssen die Kühe nicht zum Fressen anstehen und finden immer schnell einen Platz, wo sie sich ablegen, wiederkäuen und entspannen können. Der moderne Stall verfügt über Jalousien, eine Berieselungsanlage und Ventilatoren. „Damit sorgen wir dafür, dass es im Winter nicht zu kalt für die Tiere wird und der Hitzestress im Sommer erträglich ist“, erklärt Lennart Reimann. Die Optimal-Temperaturen für Milchkühe liegen bei 0 bis 5 Grad Celsius. Vor allem werden Milchkuhherde und Nachzucht auf dem Karlshof von Mitarbeitern betreut, die mit Know-how und Leidenschaft bei der Sache sind. „Wer als Landwirt jeden Tag mit Kühen zu tun hat, muss die Tiere schon mögen oder er kann es gleich seinlassen“, sagt der Junglandwirt. Er sagt auch, dass es ihm immer wehtut, wenn eine seiner Lieblingskühe den Hof verlassen muss. „Das gehört dazu, damit muss ich leben.“

„Arbeiten vor Publikum“ Der Karlshof setzt offensiv auf Öffentlichkeitsarbeit

 

Morgens um 5 Uhr beginnt die Arbeit auf dem Karlshof. Dann werden die Kühe ins Melkkarussell getrieben und gemolken. Meist sind Landwirt Lennart Reimann und seine Kollegen dann noch allein mit den Tieren. Muss aber nicht sein: Denn schon in den frühen Morgenstunden sind Besucher auf dem Milchviehbetrieb willkommen. Das gehört zur offensiven Öffentlichkeitsarbeit, die Betriebsleiter Michael Dörr ein bedeutendes Standbein seines Hofes nennt. „Das rettet jetzt den Betrieb nicht, ist aber wichtig für unser Image und das öffentliche Bild der Landwirtschaft.“ Bis zu 20.000 Gäste kommen jährlich auf den Karlshof – darunter rund 1.500 Kinder, die im angeschlossenen Schulbauernhof die Arbeit auf dem Land kennenlernen. „Wir arbeiten hier quasi fast jeden Tag vor Publikum“, sagt Junglandwirt Lennart Reimann. Beobachtet fühlt er sich aber nicht. Warum auch? „Wir zeigen den Leuten, wie gut moderne Landwirtschaft heute funktioniert.“ Er kennt die Vorteile, wenn man die Öffentlichkeit auf seiner Seite hat. Es entsteht Akzeptanz. „Wenn wir mit dem Güllefass durch den Ort fahren, grüßen uns die Leute.“

Das ist nicht selbstverständlich. Andere erleben dann abfällige Gesten oder werden als Luftverpester beschimpft. „Aber uns kennen die Leute und sie wissen, dass hier alles so läuft, wie es sein soll.“ Davon dürfen sich die Besucher auf dem Karlshof persönlich überzeugen. Als Landwirt aus Leidenschaft ist es Lennart Reimann wichtig, vielen Menschen seinen Beruf nahezubringen. „Gerade die Leute aus den Städten haben oft überhaupt keine Ahnung, wie Landwirtschaft funktioniert.“ Deshalb fragen sie viel und gezielt: Wann werden Kälber von ihren Müttern getrennt? „Nach einer Stunde.“ Warum werden die Jungtiere enthornt? „Damit sie sich später im Stall nicht gegenseitig wehtun und die Mitarbeiter nicht verletzen.“
Der junge Landwirt findet, dass die Landarbeit öffentlich weitgehend in Vergessenheit geraten ist, seit die meisten Höfe aus den Orten ausgesiedelt sind. Deshalb ist es ihm wichtig, möglichst viele Menschen auf den Karlshof zu bekommen – um aufzuklären, zu werben und Akzeptanz zu gewinnen. „Eigentlich ist das Image der Landwirtschaft ganz ok, aber wir sind alle längst noch nicht da, wo wir hin wollen.“ Betriebsleiter Michael Dörr stellt fest: „In der öffentlichen Vorstellung von unserem Beruf spielen dunkle Ställe, Matsch und abgewirtschaftet Gebäude ein Rolle.“ Auf seinem Hof erleben die Besucher etwas komplett anderes: Moderne Ställe und Maschinen sowie saubere und gesunde Tiere. Unordnung ist tabu. Gummistiefel sind überflüssig. Mit den ansprechenden Bildern der Arbeit auf dem Land schneidet Michael Dörr auch alte Zöpfe seiner eigenen Vergangenheit ab. „In der Schulzeit hatte ich als Landwirtssohn Spitznamen, die keiner braucht“, sagt er. „Auch deshalb will ich zeigen, wie es heute wirklich ist.“ Seine Öffentlichkeitsarbeit zahlt sich aus. Denn: „Wer unseren Hof wieder verlässt, ist überzeugt dass hier alles in Ordnung ist“, so Lennart Reimann. Und davon profitieren nicht nur der Karlshof, sondern auch große Teile der Milchviehbranche.